Kurzfassung
 
Moderne Freihandversuche für den Physikunterricht
 
   Der Physikunterricht nimmt auf der Beliebtheitsskala von Schülerinnen und Schülern einen der letzten Plätze ein. Beanstandet werden mangelnder Alltagsbezug, zu wenige Experimente und zu viel Rechnerei. Eine naheliegende Lösung ist die sinnvolle Einbeziehung der Erfahrungswelt der Lernenden in Form von Gegenständen und Geräten, die im modernen Alltag eine wichtige Rolle spielen (Touchscreen, Smartphone bzw. Handy, Kontaktlinsen etc.), also sinnstiftende Physik und Physik im Kontext. Dies wird durch Low Cost - High Tech-Experimente verwirklicht. Diese neue Form von Freihandversuchen erfüllt nicht nur die Erwartungen der Schülerinnen und Schüler, sondern auch verschiedene didaktische Funktionen, wie z. B. die Einsicht in die physikalischen Grundlagen neuer Materialien und Techniken oder dem Entgegenwirken von Technikangst und -gläubigkeit. Daneben eröffnen sie verschiedene methodische Einsatzmöglichkeiten, wie z. B. Schüler*innenexperimente, Projektarbeit und Hausaufgaben.

 

Langfassung

Motivation

   In den letzten Dekaden haben viele neue Materialien und neue technische Geräte Einzug gehalten in den Alltag von Schülern und Schülerinnen (zum Beispiel DVD, Handy, TV-Fernbedienung); Schüler*innen gehen ganz selbstverständlich damit um. Demgegenüber besteht ein Defizit an experimentell-methodischer Aufbereitung, was einerseits einen möglichst breiten unterrichtlichen Einsatz derartiger neuer Materialien und Geräte betrifft, und was andererseits eine möglichst einfache und kostengünstige Realisierung für den Schulunterricht angeht. Das Ziel hier ist es, Experimente aus dem Bereich High Tech, die sich als Low Cost-Experimente durchführen lassen, exemplarisch vorzustellen und in die Reihe der klassischen Freihandversuche einzuordnen (vgl. Darstellungen in Backes et al. 1997 [download (pdf 210k)]).

   Der Physikunterricht in der Schule nimmt in der Beliebtheitsskala von Schülern und Schülerinnen einen der letzten Plätze ein. Erfahrungsgemäß werden folgende Gründe dafür genannt:
   - "zerrechnete Physik",
   - fehlender Alltagsbezug,
   - zu wenige Experimente (vor allem SchülerInnen-Versuche) und zu viel "Kreide-Physik".

(Vgl. hierzu Präsentationsfolien [download (pdf 415k)]).

Unser Beitrag zur Verbesserung des Physikunterrichts

   Unsere Ansatzpunkte sind daher:
   - Berücksichtigung des Alltagsbezugs und des Erfahrungsbereichs von Schülern und Schülerinnen,
   - möglichst breiter methodischer Einsatzbereich,
   - es sollen möglichst einfache Mittel (z. B. aus dem Haushalt, dem Baumarkt oder der Schulsammlung) eingesetzt werden können.

   Diese Überlegungen resultieren
   a) in der Aufbereitung und Weiterentwicklung bestehender Freihandversuche,
   b) in der Neuentwicklung von High-Tech-Versuchen, wobei neue Materialien (z. B. Teflon, Klettverschluss, Goretex) und moderne Geräte aus dem Alltag (z.. B. elektrische Zahnbürste, CD, Handy) Verwendung finden, die einfach und kostengünstig zu beschaffen sind (Low Cost).
Neue Techniken und neue Materialien sind hierbei unter den Aspekten Einsatz im Physikunterricht und Alltagsbegegnung zu sehen, nicht unbedingt unter dem Aspekt der modernen Forschung.

   Daher sehen wir eine Erweiterung des traditionellen Begriffs des Freihandversuchs für erforderlich; die hier vorgestellten LowCost - HighTech - Experimente sollen diesen Ansatz verdeutlichen. Zu bedenken ist auch die sich ändernde Rolle der Freihandversuche im Physikunterricht: neben den nach wie vor wichtigen Funktionen der Motivation, Veranschaulichung, Elementarisierung usw., hat sich die didaktische Funktion im letzten Jahrzehnt drastisch verändert. Ein Beispiel: Der reale schräge Wurf eines Luftballons beispielsweise ergänzt die Simulation der idealisierten Bahnkurve am Rechner, indem er direkt zur Diskussion und Modellierung des Einflusses der Luftreibung führt.

Fazit

   Mit dieser Art von Versuchen wollen wir eine bestehende Lücke schließen: Einerseits wollen wir Lehrern und Lehrerinnen eine Zusammenstellung von gut dokumentierten und funktionierenden LowCost - HighTech-Experimenten an die Hand geben. Andererseits wollen wir damit eine bekannte Methode für den Physikunterricht inhaltlich aktualisieren: Bisher besteht die typische Vorgehensweise darin, vom physikalischen Phänomen in einer "akademischen" Weise auszugehen (beispielsweise Demonstration der elektromagnetischen Induktion mittels Spule, Magnet und Drehspulinstrument) und dann auf die Anwendung im Alltag hinzuweisen. Die umgekehrte Vorgehensweise, beginnend mit einem den Schülern und Schülerinnen vertrauten Alltagsgerät (zum Beispiel dem Fahrradtacho) und hinführend zum zugrundeliegenden physikalischen Prinzip, schafft mehr Motivation und läßt die Grundfrage von Schülern und Schülerinnen "Wozu brauche ich Physik?" gar nicht erst aufkommen.

   Es zeigt sich, dass HighTech-Freihandversuche
   - kostengünstig zu realisieren sind (LowCost),
   - je nach Bedarf methodisch breit einsetzbar sind (hinsichtlich des methodischen Einsatzes des Experiments, hinsichtlich der Aktions-/Sozialformen: Demonstrationsversuch, Schüler- und Schülerinnenexperiment und Stationenarbeit, Freiarbeit, Projekt, experimentelle Hausaufgabe; hinsichtlich Unterrichtsverfahren: analytisch-synthetisch, Lernen am Modell und exemplaisches Lernen, forschendes Lernen),
   - sowohl schulart-, als auch stufenübergreifend eingesetzt weden können (je nach Grad der Mathematisierung, des Zusammenhangs der erarbeiteten Phänomene),
   - geeignet sind, Alltagsphänomene und moderne Alltagsgegenstände auf elementare physikalische Grundlagen zurückzuführen,
   - interdisziplinäre Ansätze im Physikunterricht bieten können.

   Lernziele, die sich auf physikalische Inhalte beziehen, brauchen hier nicht weiter diskutiert zu werden. Weit bedeutsamer sind übergeordnete Lernziele, die sich mit Hilfe von LowCost-HighTech-Experimenten realisieren lassen:

   Aspekt der physikalischen Betrachtungsweise: Diese Art von Versuchen ermöglicht das Erlernen eines pragmatischen Umgangs mit und eines physikalischen Verständnisses für neue Materialien und Geräte. Selbst hochkomplizierte Geräte basieren auf ganz elementaren physikalischen Prinzipien (z. B. Massenträgheit beim Airbag-Sensor, Adhäsionskräfte bei Kontaktlinsen, Modulation der Infrarot-Strahlung bei der Fernbedienung). Die Black Box bleibt nicht weiter geheimnisvoll, ihre Funktion wird im Wesentlichen (im physikalischen Sinne) deutlich und - je nach Einsatz im Unterricht - direkt oder am Modell erfahrbar.

   Sicherheitsaspekt: Dabei kann auch der verantwortungsbewußte Umgang mit Geräten (zum Beispiel Mikrowelle, Handy) eingeübt und im Unterricht diskutiert werden.

   Aspekt der Zukunftsorientierung: LowCost - HighTech - Experimente können, neben einer erhofften stärkeren Motivation für das Fach Physik und Anwendungen der Physik im Alltag, dazu beitragen, Angst zu nehmen vor der Beschäftigung mit neuer Technik und neuen Materialien. Da die Entwicklung und Etablierung neuer Techniken und Materialien nicht stehenbleibt, erlangen die LowCost-HighTech-Experimente im Hinblick auf die Zukunft der Schüler und Schülerinnen eine wichtige didaktische Funktion. Man kann Sensibilität und Verantwortungsbereitschaft (z. B. Umweltverträglichkeit neuer Materialien), Kritikfähigkeit und Urteilsvermögen (z. B. beim Vergleich der Wirkungsgrade von Tauchsieder und Mikrowelle) fördern.

   Aspekt der Methodenkompetenz: Bei der Informations- und Materialbeschaffung durch Schüler und Schülerinnen kann Selbstständigkeit erlernt werden. Beim Selbstbau (z. B. im Rahmen eines Projektes oder einer Bastelstunde) können manuelle Fertigkeiten und Problemlösungsstrategien trainiert werden. Integriert in geeignete Sozialformen des Unterrichts tragen die Experimente zur Erlangung von Schlüsselqualifikationen, wie kooperatives Lernen, Planen und Organisieren, Vortragen und Zuhören usw. bei.

   Aspekt der Interdisziplinarität: LowCost - HighTech - Experimente bieten einen direkten Zugang zu technischen und elektronischen Problemstellungen. Weit wichtiger können gesellschaftliche Fragestellungen sein: Einblicke in die Entwicklung und Verwertung neuer Techniken können gewonnen werden (z. B. beim Thema Airbag über Kontakte zur Automobilindustrie). Eine Diskussion der Datensicherheit kann geführt werden (z. B. beim Thema Chipkarten), ebenso kann Fragen des Strahlenschutzes (z. B. bei den Themen Mikrowelle, Handy) nachgegangen werden.

   Bisher liegen viele Erfahrungen und Berichte aus der praktischen Umsetzung vor. Demnach sind die Reaktionen gegenüber unserem Ansatz sehr positiv (beispielsweise Lehrer und Lehrerinnen im Rahmen von Fortbildungen, Schüler und Schülerinnen in Workshops und Unterrichtsprojekten, Lehramtstudierende in Praktika und Seminaren,  Hilfe von Firmen bei der Informations- und Materialbeschaffung).


Auswahl von Artikeln hierzu:

Deutsch: Plus Lucis 2/1997 [download (pdf 210k)]
Englisch: Physics Education 33(4) July 1998 [download (pdf 330k)]